08 Feb
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Magie

 Berlin-Gegenwart Lucian hatte die hölzerne Truhe geöffnet und starrte auf sein goldenes Lichtschwert. Der tiefgrüne Samt umschloss es wie eine warme Decke. Seine Hände hatte er auf dem Tisch abgestützt, seine Stirn lag in Falten. »Ich verstehe das nicht!«, sagte er zu niemand Bestimmten. Der Dunkelelf spürte einen kühlen Windhauch an seinem Nacken und kurz darauf ertönte eine Stimme. »Was ist denn los?« Lucian musste nicht aufschauen, er wusste, wer es war. »Wenn ich das nur wüsste, Lily!«, gab er leise von sich. »Wie lange möchtest du denn noch auf das Schwert starren?« Lily war nicht alleine. Lucian erhob sich aus seinem Stuhl und drehte sich zur Seite. Neben Lily stand Raphael, der Lichtelf hielt Lilys Hand fest in seiner. Seine Haare leuchteten wie mit Sonnenlicht durchflutete Fäden. 

Ein heller Schein umgab die beiden. Sie gehörten zusammen. Für immer. Das wusste Luc und freute sich für seine kleine Schwester. Er kreuzte seine Arme und fuhr sich mit dem Zeigefinger über seine Lippen. Angestrengt dachte er nach und sagte dann schließlich: »Das Schwert summt. Hört ihr das?« Er musterte die beiden. Lily löste sich von Raphael. Sie kam ein paar Schritte auf Lucian zu und blickte ihm fest in die Augen, sagte jedoch nichts. »Ich höre es!«, gab Raphael von sich und trat näher an den Tisch heran. Lily schüttelte ihren Kopf. »Ich nicht.« Ihr Blick huschte zu Raphael, dann zu Luc. Der Dunkelelf und der Lichtelf tauschten undeutbare Blicke. Ein schallendes Ding-Dong riss die Drei aus ihren Gedanken. Lily zuckte erschrocken zusammen. Lucian lockerte die Arme und spähte auf seine Armbanduhr. 

»Pünktlich auf die Minute«, flüsterte er und setzte sich in Bewegung. Er lief aus dem Wintergarten in Richtung des Flurs. Seine Stiefel erzeugten keine Geräusche auf dem hellen Marmorboden. Als würde er schweben. Das tat er auch. Luc griff nach der verschnörkelten Klinke und öffnete lässig die Tür. Zwei Augenpaare schauten ihn freudestrahlend an. Das eine blickte ihn aus großen grauen Augen an, das andere war honigfarben wie flüssiges Karamell. »Rufus, Lia, seid willkommen!«, sagte Lucian und öffnete die Tür noch weiter. Mit einer Hand wies er sie an, hineinzukommen. Die beiden Zaubermeister verneigten sich und schritten in das Haus. Lily und Raphael standen mittlerweile am Treppengeländer und lächelten ihren Freunden zu. Als die zwei Lily erblickten, verneigten sie sich auch vor ihr. Lucian und Lily waren nun König und Königin von Watin. Watin war ein entlegener Ort außerhalb der menschlichen Welt. Man konnte ihn nur durch ein Portal betreten, das nur Fabelwesen oder Hybriden durchqueren konnten. Hybriden benötigten einen Siegelring, mit dessen Hilfe sie durch das Portal nach Watin gelangten. Für Menschen war es nahezu unmöglich. Da diese aber keine gerngesehenen Gäste waren, hatten nur wenige Sterbliche die andere Welt mit ihren eigenen Augen gesehen. »Hallo Lucian!«, sagte der rothaarige Zaubermeister.

 Er nickte und sah zu seiner Schwester. »Lily. Raphael.« Sie und Lucian hatten von Anfang an geklärt, dass sie von keinem ihrer Freunde mit »Eure Majestät« oder »Eure Hocheit« angesprochen werden wollten. Ebenso der Knicks und die Verbeugungen waren den Geschwistern zuwider. Der Zaubermeister hatte aber darauf bestanden, sich vor ihnen zu verneigen. Letztendlich waren sie von hohem Rang. Königlich. Seine strenge Erziehung und der Respekt für die beiden konnte er nicht abstreifen wie einen seiner geliebten Kimonos. 

»Ach, komm her«, sagte Luc und fiel dem Zaubermeister um den Hals. Lia und Lily lagen sich ebenfalls in den Armen. Nachdem Rufus Lucian ausgiebig umarmt hatte, schnappte er sich Raphael und drückte auch ihn. »Kommt mit!« Lucian wies mit einer Handbewegung in Richtung des Wohnzimmers. Die Sonne, die eben noch breit vom wolkenlosen Himmel gelächelt hatte, verzog sich hinter grauen Wolken, die wie aus dem nichts aufgezogen waren. Lucian zeigte auf den Esstisch. Darauf lag eine längliche Truhe aus dunkel lasiertem Holz. 

Sie war geöffnet und von innen mit moosgrünem Samt ausgeschlagen. Beim Näherkommen stockte Lucian der Atem. Fassungslos drehte er sich zu Lily und Raphael. Lilys Blick ging zu der Truhe. Ihre Augen weiteten sich. »Es ist weg! Mein Schwert ist weg«, rief Lucian panisch. Kaum hatte er die zwei Sätze ausgesprochen, wirbelten schon lilafarbene und blaue Glitzerpartikel in der Luft umher. Wie zwei kleine Tornados, die auf dem Tisch tanzten. Zuerst waren es zwei einzelne, doch dann vermischten sie sich zu einem großen. Kalter Wind wehte Lily, Lucian und Raphael um die Ohren. Ihre Haare wurden kräftig durcheinandergebracht. Die Zaubermeister Rufus und Lia standen sich gegenüber und machten in der Luft kreisende Bewegungen mit ihren Armen. Ihre Finger tanzten so, als ob sie auf unsichtbaren Klaviertasten spielten. »Was ... was macht ihr da?«, wollte Luc wissen. Es war gar nicht so leicht, gegen den Wind anzusprechen. Draußen verdunkelte sich der Himmel immer mehr. Donner grollte. Blitze zuckten. Ein Knall. Lily schrie auf. Ganz in der Nähe hatte ein Blitz eingeschlagen. Hastig eilte Raphael zu ihr. »Keine Angst«, flüsterte der Lichtelf ihr zu. »Ich bin ja bei dir!« Lily drückte sich noch näher an ihn. Er war so warm, trotz der Kälte, die immer mehr zu werden schien. Lily schauderte. »Hatte ich dir nicht schon einmal gesagt, dass du auf deine Schwerter, egal welche, aufpassen sollst? Wenn es in die falschen Hände gerät, könnte Watin und auch unsere Welt hier für immer vernichtet werden. 

Bis nichts mehr bleibt außer Schwärze und dem Nichts!«, ermahnte Rufus den König. Lucians Miene war ernst. Er rieb sich über die Stirn, wie er es immer tat, wenn er nachdachte. Die Bewegungen der beiden Zaubermeister wurden jetzt langsamer. Der Wind nahm ab, bis er ganz und gar versiegte. Lucian fuhr sich mit beiden Händen mehrmals durch seine kinnlangen Haare. Wie nebenbei bemerkte er, dass die Haare des Zaubermeisters um ein Stück länger waren als noch vor wenigen Wochen. Ja, sie hingen ihm weit über seine Schultern. Rufus‘ Haare waren ebenso durcheinander. Wie seine eigenen und gleichermaßen die der anderen. »Was habt ihr gemacht? Wer war das?«, fragte Lily und ließ Raphael nicht los. 

Rufus schüttelte seine rubinleuchtende Haarpracht und legte sie sich über die linke Schulter. »Der- oder diejenige, die das Schwert gestohlen hat, hat Spuren hinterlassen!« »Woher ...«, setzte Luc an und trat einen Schritt näher zu dem Rotschopf. »Schon, als wir den Raum betraten«, antwortete Lia und schaute hinauf zu Rufus dann wieder zu Luc, »roch ich es!« Lucian musste etwas hinabschauen, da Lia so klein und fein war. Ihre schwarzen Haare trug sie, wie immer, zu zwei filigranen Zöpfen. Auch ihr Haar war länger geworden und hing ihr bis zu den Schultern. Das freche, kampflustige Mädchen hatte sich in eine Frau verwandelt. Ob es damit zusammenhing, dass Lia jetzt Rufus an ihrer Seite hatte? Sie wirkte ausgeglichener und fröhlicher mit ihm. 

»Wonach roch es? Riecht es?« Raphael blickte ernst und drückte Lily noch fester an sich. Rufus' Strahlen ist weniger geworden, dachte Luc. »Nach Schwefel!«, gab Lia leise von sich. Sie machte einen Schritt auf den Esstisch zu und ging in die Hocke, blickte seitlich auf die hölzerne Oberfläche. Rufus tat es ihr gleich. Seine Lippen formten ein »O« und er pustete vorsichtig den Glitzerstaub weg. Gleichzeitig standen die Zaubermeister auf. Dann sahen es auch die anderen. Funkelnde Abdrücke eines Tieres, die Lucian, an die eines Vogels erinnerten. »Ein Vogel? Soll ein Vogel mein Schwert haben?« Mit zusammengezogenen Augenbrauen sah er Rufus an. Der Hüne schüttelte den Kopf. »Das ist nicht irgendein Vogel.« 

Er deutete mit dem Zeigefinger auf den Abdruck. »Siehst du, es sind vorne vier statt drei Zehen zu sehen und hinten zwei statt einer.« Lucian hatte sich über den Tisch gebeugt und sich mit den Händen vorsichtig abgestützt. »Was für ein Wesen ist es? Ein Feuervogel etwa?« Lia schüttelte den Kopf. »Nein. Dieser Abdruck ist aber ähnlich. Der Feuervogel kann nicht durch ein Portal in die menschliche Welt. Er ist an Watin gebunden. Es ist für sie unmöglich hierher zukommen. Außerdem sind Feuervögel gutartigeWesen. Das Wesen, welches hier war, ist nicht gutartig.« »Erinnerst du dich noch an die Lehrstunden über Fabelwesen mit mir?«, fragte Rufus an den König gewandt. Lucian kniff seine Augen zusammen, als würde er nachdenken. Scheiße, alles weg. Wie hinfortgeblasen mit dem Wind. Das Königsein wächst mir mittlerweile über den Kopf. Möglicherweise sollte ich Lily etwas mehr zumuten und etwas von meiner Arbeit abgeben. Sie könnte sich um weitere Brunnen für die Pixies kümmern. Und einen neuen, größeren Rosengarten anlegen. Raphael würde ihr mit Sicherheit gerne zur Hand gehen, dachte Luc und öffnete langsam seine Augenlider. 

»Nein, tut mir leid. Es fällt mir nicht mehr ein.« Lucian verschränkte seine Arme und massierte sich mit dem Daumen und Zeigefinger seine Nasenwurzel. Er blinzelte. Lily löste sich von Raphael und schritt auf ihren Bruder zu. »Lucian! Wenn ich dir irgendwie helfen kann, dann sag das bitte.« Kann sie jetzt Gedanken lesen? Er blickte sie nickend an, lächelte schief und nahm sie in den Arm. »Ich habe schon vor Wochen zu Raphael gesagt, dass du uns problemlos mehr zutrauen könntest. Du machst viel zu viel. Tag und Nacht bist du in Watin. Ich weiß, dass du nach König Calomels Körper suchst. Lass los!« Lucian sah Lily tief in die Augen. 

Er löste sich von ihr und stützte seine Hände auf den Tisch. Darauf bedacht, keine der Spuren zu verwischen. »Welche Fabelwesen kommen noch in Betracht?«, fragte er an Rufus gewandt. Nachdenklich betrachtete er die lila- und blauglitzernden Abdrücke. »Es könnte ein Hippogryph sein oder ein Greif.« Der Zaubermeister starrte immer noch auf den Tisch. »Was ist ein Hippogryph oder ein Greif?«, wollte Lily wissen und schob sich einen Stuhl zurecht, um sich auf ihn zu setzen. Raphael blieb mit verschränkten Armen hinter ihr stehen. »Ein Hippogryph und ein Greif sind beides Mischwesen. Der Hippogryph hat meistens einen Pferdekopf. 

Flügel wie ein Vogel, allerdings von der Größe eines Engels. Mit schwarzen oder dunklen Federn besetzt. Seine Vorderbeine sehen aus wie die eines Adlers. Der Hinterleib ist dem eines Pferdes ähnlich. Der Greif aber hat einen löwenartigen Leib, den Kopf eines Raubvogels, einen mächtigen scharfen Schnabel und spitze Ohren und Flügel. Wie genau die Flügel beschaffen sind, weiß selbst ich nicht«, erklärte Lia. Lily schluckte laut. »Das hört sich alles so furchtbar an. Wer hat solche Wesen erschaffen?« Rufus und Lia tauschten einen flüchtigen Blick. »Die Nephilim!«, sagte der Zaubermeister. »Die Nephilim? Das ... das sind doch ...« Lily drehte sich zu Raphael um. Dieser hatte soeben den Rücken des Stuhls ergriffen. Seine Finger krallten sich fest in das Holz. Mit apathischem Blick sagte er. 

»Die Gefallenen!« Langsam löste sich sein Blick wieder und traf auf Lilys. Schwarze Schatten durchzogen wie kleine Wolken seine Augenlider. Die Lichtelfe konnte seinem Blick nicht länger standhalten und schaute zu Rufus. Eine Weile sagte niemand etwas. Eisige Ruhe umgab die Freunde, bis Raphael sie endlich durchbrach. »Es könnte ebenso ein Basilik gewesen sein. Ich glaube sogar, dass so einer eher in Betracht gezogen werden sollte. Die sind zwar um einiges gefährlicher, aber man kann ihnen folgen. Rufus, könntest du einen Verfolgungszauber wirken? Meiner Meinung nach sind diese Viecher leichter aufzufinden als die anderen zwei.« Als Raphael verstummte, blickte ihn der Zaubermeister mit geweiteten Augen an. »Ich ... ich kann nicht glauben, dass du – ausgerechnet du, ein ehemaliger Erzengel und Magieverweigerer – mich darum bittest!« Ein Lächeln umspielte Rufus' Lippen. »Warum bin ich denn nicht auf den Basilik gekommen?« Er fuhr sich über die gerunzelte Stirn. »Ich weiß nicht, ob du schon stark genug für den Verfolgungszauber bist! 

Und außerdem ist dieses Wesen viel zu gefährlich«, sagte Lia und schmiegte sich an Rufus. Sanft küsste Rufus Lias Stirn. »Ich habe doch die mächtigste Zaubermeisterin an meiner Seite. Warum sollte ich mir großartig Sorgen machen?« Lia lächelte breit. Lily drehte sich zu Raphael und ergriff seine Hand. Erst jetzt besänftigte sich seine Miene und die Dunkelheit, die vor wenigen Minuten seine Augenlider in Schatten gehüllt hatte, verschwand. Der Lichtelf zog seine Königin hoch und Lily umarmte ihn. Dann lösten sich die beiden und Lily bemerkte Lucians versteinertes Gesicht. »Was ist?« Lily stupste ihn leicht gegen die Schulter. Doch ihr Bruder reagierte nicht. Noch einmal stupste sie ihn, dieses Mal fester. Sein Kopf bewegte sich, aber zu Rufus. »Du kannst Verfolgungszauber wirken?«, fragte Luc. Jedes Wort hatte er überdeutlich betont. Seine Stimme bebte vor Wut. Rufus nickte. »Im Moment brauche ich noch Lias Hilfe.« »Dann kannst du bestimmt auch einen Findezauber wirken!« Der Zaubermeister ahnte, dass es keine Frage war. Ein magisches Knistern erfüllte den Raum, als Rufus sich mit gespreizten Fingern durch sein dichtes Haar fuhr. 

Lucian war sich sicher, dass die Magie des Zaubermeisters für heute noch nicht erloschen war. »Was hast du vor?« Rufus verengte seine Augen zu Schlitzen. »Ich suche nach König Calomels Körper, schon seit Wochen. Ich muss ihn finden!« »Wieso denn?« Lily legte eine Hand auf seine Schulter. Lucian drehte sich zu ihr. »Ich finde, er hat eine anständige Beerdigung verdient, ihr nicht auch?« »Für heute können wir nur noch einen zusätzlichen Zauber wirken«, sagte Lia bestimmend. Lucian nickte. 

»Ich würde vorschlagen, dass Lia und ich den Verfolgungszauber wirken. Rechnet aber mit unserer Ankunft spätestens morgen früh.« Rufus wandte sich an Raphael. »Wenn wir bis dahin nicht zurück sind, verlasst das Haus und geht in deine Wohnung!« Der Lichtelf nickte zügig. Der Zaubermeister wandte sich an Lucian. »Und wenn wir uns sicher sind, dass es eines dieser Wesen war, dann müssen wir sogar den Findezauber wirken! Erst recht, wenn es der Basilik ist.« »Was ist seine Magie? Die des Basilisks?«, fragte Lily und strich Luc über den Rücken. Rufus Augen verdunkelten sich. »Das willst du nicht wissen. Zuerst müssen wir herausfinden, ob es überhaupt einer war, und dann sehen wir weiter.« 

»Bist du bereit?«, fragte Lia an ihren Liebsten gewandt. Die zierliche Zaubermeisterin begab sich in Position. Sie schob einen Stuhl beiseite und kletterte auf ihn. Von ihm aus stieg sie auf den Tisch. Rufus tat es ihr gleich. »Mit dir jederzeit!« Er lächelte. Erneut kam Wind auf. Die Zaubermeister fassten sich an den Händen und verfielen in einen Gesang, den keiner der anderen verstand. Der Wind war um einiges kräftiger als vorhin. Lucian lief ein paar Schritte rückwärts und hielt sich eine Hand schützend vor sein Gesicht. 

Die Luft peitschte den Anwesenden wie kalter, schneidender Schnee ins Antlitz. Raphael hatte Lily hastig hinter sich geschoben, um sie zu schützen. Der Boden schien sich zu bewegen. Ein ohrenbetäubender Knall schallte wie eine Druckwelle über die Elfen hinweg und riss sie zu Boden. Die anderen wussten nicht, wie ihnen geschah. Langsam versiegte der Wind. Lucian rappelte sich als erster auf und blickte zum Tisch. Dort, wo soeben die beiden Zaubermeister gestanden hatten, wirbelten feine blaue und lilafarbene Glitzerpartikel in der Luft wie in einem Strudel, bis sie sich im Nichts auflösten. Stille. 

Eine angsteinflößende Ruhe lag im Raum. Lily schüttelte sich, so eisig war die Kälte gewesen. Dann starrte sie auf Raphael, der vor ihr kniete. Er blinzelte benommen und lächelte sie an. »Geht es dir gut?« Lily nickte und blickte auf etwas, das an seinem Rücken war. »Geht es dir gut?« »Ja, alles bestens. Wieso?« Lucian hielt ihm und Lily jeweils eine Hand hin. Er zog beide hoch. »Was ist da an meinem Rücken? Es ist so schwer.« Die Augen des Dunkelelfs weiteten sich und er schaute auf Raphaels Kreuz. »Dir sind Flügel gewachsen, Glühwürmchen.« Mit großen Augen schaute er Luc an. »Oh, das ist neu.« Die drei brachen in lautes Gelächter aus. Lily zog an seiner Hand, als sie sich wieder beruhigt hatten. »Komm mit in mein Zimmer und sieh sie dir an.« 

Kurz darauf verschwanden die beiden leise. Lucian verkniff sich einen Witz über Schmetterlinge und ging in die Küche. Er holte sich ein Glas aus dem Hängeschrank und goss sich kaltes Wasser aus dem Wasserhahn hinein. Aus der Zuckerdose fischte er sich mit einer kleinen Zuckerzange einige Kandisstücke und ließ sie in sein Glas sinken. Mit einem Strohhalm vermischte er alles. Nur langsam lösten sich die Kandisstücke auf. Seitdem er vor fast zwei Jahren, an seinem achtzehnten Geburtstag, erfahren hatte, dass er ein Hybrid war, hatte er noch keinen Hunger oder Durst nach Zucker oder eiskaltem Wasser verspürt. Schon gar nicht in Kombination. Was für ein verrückter Tag!, dachte er. Sein Handy summte und vibrierte in seiner Hosentasche. Luc stellte sein Wasserglas neben die Spüle, zwei Kandisstücke waren noch darin. Er griff nach seinem Smartphone und zog es heraus. 

Eine Nachricht. Zügig entsperrte er den Bildschirm und lehnte sich an die Küchenzeile. Er öffnete den Gruppenchat mit dem Namen The Sterlings und las laut vor: »Unsere Hoheiten, wir liegen mal wieder am Strand und trinken den ganzen Tag Kokosmilch. Das Meer ist ein Traum und die Hawaiianer freundlich. Alle flippen wegen Moms silberfarbenem Haar aus und wollen sie anfassen. Wir hoffen, euch geht es gut. Bis in vier Wochen. Dicken Kuss. Mom & Dad.« Einige Strandbilder waren zu sehen. Luna und George neben einer Palme mit Cocktails. Im Pool und am Strand. Lucian lächelte und tippte: Uns geht es gut. Rufus und Lia besuchen uns für einige Tage. Wir drücken euch königlich. Luc und Lil. Luc lächelte und steckte das Telefon wieder ein, leerte das Glas mit den Kandisstücken. 

Genüsslich kaute er auf ihnen herum. Den Urlaub haben sie sich verdient, nach all den Strapazen der letzten zwei Jahre. Der Dunkelelf löste sich von der Küchenzeile und lief die hölzerne Treppe nach oben. Die Stufen knarzten vertraut. Erst jetzt merkte er, wie müde er war. Es ist besser so, dachte Luc. Mom und Dad müssen hiervon nichts erfahren. Sie würden sich sonst Sorgen machen und können ihren verdienten und langersehnten Urlaub nicht genießen. Lucian lief an Lilys Zimmer vorbei. Ich kann immer noch nicht glauben, dass die beiden verlobt sind. Schön, dass sie glücklich sind und sich wiederhaben. Luc bog nach rechts in sein Zimmer. Eigentlich wollte er schon längst ausgezogen sein, aber George und Luna hielten es für das Beste, dass sie alle zusammenblieben. Raphael hat immerhin eine Wohnung. Wenigstens können die beiden sich zurückziehen, ohne befürchten zu müssen, dass irgendwelche Bediensteten sie belauschen. Luc seufzte. Hin und wieder verzog er sich nach Watin. Aber heute war er viel zu müde, um ein Portal in Anspruch zu nehmen und nach Watin zu reisen. In sein Königreich. Er setzte sich auf das Bett und öffnete die Reißverschlüsse seiner königlichen Stiefel, streifte sie ab, ließ sich nach hinten fallen und schloss seine Augen. Doch statt einzuschlafen, hielt ihn sein Geist wach. 

Lucs Gedanken kreisten um dieses fremdartige Wesen. Was ist es bloß? Ist es wirklich so gefährlich? Und warum braucht es mein Schwert? Ich hätte noch mehr Schutzzauber über das Haus legen sollen. Und erst recht über die Truhe und das Lichtschwert. Ob das Summen ein Hinweis auf das Verschwinden war? Wieso habe ich es nicht gerochen? Es gespürt? Hätten Mom und Dad es mit ihren Werwolfsnasen wahrgenommen? Lucian spürte plötzlich einen Windhauch an seiner Wange. Der Geruch von Blumen und nasser Erde erfüllte den Raum. Er lächelte und ehe er etwas sagen oder seine Augen öffnen konnte, spürte er einen warmen Kuss auf seinen Lippen. Weich und sanft. Er blinzelte und öffnete die Augenlider. Eine feine Hand legte sich auf seine Brust. Der Dunkelelf griff danach und führte sie an seinen Mund, um sie zu küssen. »Freya«, flüsterte er und blickte in ihre leicht schrägstehenden, rosablauen Augen. Luc ließ ihre Hand los und drehte sich auf die Seite. Seine Gefährtin. Wie wunderschön sie ist. Ich liebe sie so sehr. 

Vorsichtig strich er eine Haarsträhne ihres langen blonden Haares hinter ihr spitzzulaufendes Ohr. Freya war eine der Waldfeen, die Lucian und den anderen beim Kampf gegen Black Ticks und Königin Rilaona geholfen hatten. Sie hatte auch bei Rufus' Heilung eine wichtige Rolle gespielt. Freya hatte ihn geheilt, als Lia es nicht konnte. Ein Jahr, schon ein Jahr war vergangen, seit der Kampf um Watin gewonnen wurde. Lucians Blick fiel auf ihre sinnlichen Lippen. Sie lächelte ihn zuckersüß an. Er nahm ihr Kinn zwischen seinen Daumen und Zeigefinger und küsste sie. Freya schmeckte nach Blütennektar. Betörend und leicht. Wie kann man nur genug davon kriegen? Freya drückte ihn sachte von sich. 

Auf ihren Lippen tanzte ein Lächeln. »Du siehst müde aus, Liebster. Wie kann ich dich erfreuen?« Luc nahm erneut ihre Hand und küsste sie abermals. »Du erfreust mich schon jetzt. Alleine durch deine Anwesenheit.« Der König schloss seine Augen, rutschte ein Stück näher und wollte seine Liebste auf den Mund küssen, da merkte er einen Finger an seinen Lippen und öffnete erneut die Augenlider. »Komm, ich singe dir ein Lied.« Ehe Lucian protestieren konnte, hörte er Freyas lieblichen Gesang. Ihre Stimme war leise und zugleich laut. Das Lied war fröhlich und machte ihn gleichzeitig müde. Kurz bevor er wegdämmerte, merkte er, dass es ein Schlaflied der Feen war. Ein Zauberlied, das jeden sofort ins Land der Träume schickte. Freya kannte ihn zu genau. »Bin ich jetzt zu einem Schmetterling mutiert?« Raphael betrachtete sich in Lilys Standspiegel. Dunkelgrüne Flügel, so fein wie die von Schmetterlingen, bewegten sich auf seinem Rücken auf und ab. Sie waren einfach so aufgetaucht. Aus dem Nichts. Die Flügel schimmerten an den Spitzen im künstlichen Licht zart bläulich. 

Er hatte nicht einmal an etwas bestimmtes denken müssen. Obwohl, dachte er. Ich wollte Lily vor diesem Sturm beschützen! Aber Schmetterlingsflügel? Na ja, sie haben auch was von Libellenflügeln, sind leicht durchsichtig. Raphael zuckte mit den Schultern und mit einem Mal waren die Flügel wieder weg. »Mach das nochmal!«, tönte Lilys Stimme vom Bett. Raphael zuckte ein weiteres Mal mit den Schultern, doch nichts geschah. »Weg ist weg! Endlich kann ich mich zu dir kuscheln.« Lily saß in ihrem Schlafshirt auf dem Bett und starrte ihn ungläubig an. »Wieso hattest du plötzlich Flügel?« Raphael zog sich seine Schuhe von den Füßen. »Ich weiß es nicht, Lily. Vielleicht war das ja mein Beschützerinstinkt. Wenn Rufus und Lia spätestens morgen wohlbehalten zurückkommen, werde ich ihn fragen. Wenn jemand etwas darüber weiß, dann Rufus Link.« 

Lily nickte und klopfte neben sich auf die leere Bettseite. »Das Bett ist kalt, komm schnell«, sagte sie ungeduldig und schmiegte sich in ihre Decke. »Du bist doch eine Lichtelfe, eigentlich dürftest du nicht frieren.« Sie schürzte ihre Unterlippe. »Aber doch nur zur Hälfte. Zur anderen Hälfte bin ich Mensch. Und der Mensch in mir friert, also komm jetzt her oder ich -« Raphael ließ sie nicht aussprechen und drückte ihr seine Lippen auf. »Sei still«, murmelte er an ihrem Mund, bevor er sich von ihr löste.« Ein Grinsen malte sich auf sein Gesicht. Lily musterte ihn. Er hatte nur seine Schuhe und Socken ausziehen können. 

Die Jeans sowie den zerissenen Kapuzenpullover trug er noch. Die Finger der jungen Königin ergriffen den Kragen seines Pullovers und zogen ihn über seinen Kopf. Langsam schälte Raphael sich aus seinen Klamotten. Den Hoodie ließ er auf den Boden fallen. Das T-Shirt folgte. Lilys Finger fuhren zum Knopf seiner Jeans. Raphael holte tief Luft und Lily blickte auf. »Soll ich aufhören?« Er schüttelte den Kopf. Seine Hand fuhr an ihr weiches Gesicht, die Finger des Lichtelfs knisterten. Meine Seelenverwandte. Meine Verlobte. Ihre Blicke trafen sich. Ich liebe dich!, dachte er. Und so als ob sie ihn gehört hätte, lächelte Lily. Ihre Hände öffneten den Reißverschluss und sie streifte ihm die Hose ab. Lilys Finger fuhren an Raphaels Brust und seine Bauchmuskeln entlang, hinab zu seinem Bauchnabel. Sie hielt inne. Ein lieblicher Gesang drang zu den beiden. »Oh, nein!«, sagte sie und gähnte mit einem Mal. Sie fühlte sich schlagartig müde. Raphael tat es ihr gleich und merkte, wie Lily mit ihrem Kopf sanft auf seine Brust sank und wenige Sekunden später einschlief. Seine Augen wurden schwer wie Blei und auch er dämmerte langsam weg. Warme Sonnenstrahlen kitzelten Lily wach. 

Sie rümpfte ihre Nase und musste niesen. »Gesundheit!« Blaugrüne Augen sahen sie liebevoll an. Raphael. Ein heller Schein umgab ihn. Mein Engel, dachte sie. Für mich bleibst du für immer ein Engel. Auch wenn du keiner mehr bist. Du überstrahlst alles.  »Entschuldigung«, flüsterte sie. Liebevoll küsste er sie auf die Stirn und Nasenspitze. »Guten Morgen, mein Herz.« »Guten Morgen! Wo waren wir eigentlich gestern stehengeblieben?«, fragte Lily unschuldig. Schon alleine bei dem Gedanken wurde sie rot. Ihre Wangen glühten. Raphael lächelte verlegen. »Freya hat das Feenschlaflied gesungen und wir sind eingeschlafen.« »Ja, aber wir wollten doch kuscheln und ...« Lily konnte ihren Satz nicht beenden. Gerade wollte sie sich an Raphael schmiegen, da schlüpfte er hastig aus dem Bett. 

Verwundert stellte sie fest, dass er schon komplett angezogen war. »Das hat Zeit. Noch sind wir nicht verheiratet. Es gibt im Moment viel wichtigere Dinge als ...«, Raphael hielt kurz inne, als müsse er nach dem richtigen Wort suchen, »Sex!«, sagte er schließlich. Er öffnete die Tür und verschwand. Frustriert und mit glühenden Wangen ließ Lily sich zurück in die Kissen fallen. Sie hätte am liebsten vor Zorn geschrien. Er war so altmodisch. Einerseits war das gut, andererseits machte es sie verrückt. Raphael traute sich kaum, sie anzufassen. Letztes Weihnachten hatte Raphael um Lilys Hand angehalten. Und als Lilys Eltern davon erfuhren, sind sie vor lauter Glück ausgeflippt. Das war schon fünf Monate her. Fünf! Er war definitiv zu lange ein Engel gewesen. Sie verzehrte sich nach ihm, hatte sich sogar die Pille verschreiben lassen. Sie wollte ihn nicht nur küssen, sondern auch fühlen. Ihn spüren. Eins mit ihm werden. Ein Stöhnen entwich ihrer Kehle. Wäre Freya nicht gewesen, hätten sie gestern vielleicht miteinander geschlafen. 

Zum allerersten Mal. »Aufgewacht, die Sonne lacht!«, hörte sie neben sich. Sie fuhr hoch und erblickte Raphael. Er stand neben dem Bett und grinste sie an. »Ich sollte wohl lieber nicht fragen, woran du eben gedacht hast, oder?« Oh, Gott! Er hat mich beobachtet. Am liebsten wäre Lily im Erdboden versunken. Stattdessen griff sie nach einem Kissen und warf es mit voller Wucht in seine Richtung. Das Kissen traf ihn an der Brust und fiel auf den Boden. »Na, warte«, rief er mit gespieltem Ernst und bückte sich nach dem Kissen. Lily versteckte sich kreischend unter der Bettdecke. 

Lachend setzte sich Raphael auf sie, griff mit den Händen darunter und kitzelte Lily durch. Quietschendes Lachen erfüllte das sonnendurchflutete Zimmer. Lucian hörte glockenklares Lachen, als er erwachte. In seinem Zimmer war es stockdunkel, nur die kleine baseballgroße Lampe durchbrach die Schwärze. Sie war aus rotschwarzem Glas, welches von innen aussah, als wäre es in feinste Teilchen gesprungen. Luc tastete sein Bett ab, in der Hoffnung, Freya wäre noch da. Doch seine Liebste war fort. Noch nicht lange, denn die Seite, auf der sie geschlafen hatte, war noch warm. 

Der Dunkelelf drehte sich auf den Rücken und blieb liegen. Eine Weile hörte er dem Lachen und dem freudigen Quietschen zu, das durch die Wand aus Lilys Zimmer zu ihm drang. Lily und Raphael sind verlobt. Ob sie noch dieses Jahr heiraten? Er macht sie so glücklich. Luc holte tief Luft und streifte die dünne Decke von sich. Lucian war gestern in seinen Klamotten eingeschlafen und so lief er durch die Dunkelheit zum Fenster und öffnete die Jalousien einen Spalt breit. 

Als Dunkelelf liebte er die Finsternis und die Kälte. Luc konnte im Dunkeln so scharf sehen wie eine Katze. Im Handumdrehen war er umgezogen und öffnete seine Zimmertür. Gleichzeitig kamen Lily und Raphael aus ihrem Zimmer. »Guten Morgen!«, rief Lily ihm zu, löste sich von Raphael und tänzelte auf ihn zu. Die beiden Lichtelfen strahlten. Der helle Schein umgab sie erneut. Funkelte. Lily drückte ihrem Bruder einen Kuss auf die Wange. Amüsiert sah er sie an. »Guten Morgen ihr Glühwürmchen. Ist ja nicht auszuhalten mit euch.« Er zog eine Augenbraue hoch und schaute zu dem Lichtelf. Ein Lächeln umspielte Lucians Lippen. »So viel Licht am Morgen!« Luc schüttelte den Kopf und Lily löste sich von ihm. 

Sie lief die Treppenstufen hinab und die beiden Jungs folgten ihr. »Und?«, fragte Lucian an Raphael gewandt. »Habt ihr euch schon Gedanken über eure Hochzeit gemacht?« Raphael hielt in seiner Bewegung inne. »Nein!« Luc tat es ihm gleich. »Nein?« Der Lichtelf blinzelte und setzte zum weitergehen an. »Noch nicht. Wir sind jung und können uns Zeit lassen. Es ist aber ein Versprechen.« Die beiden liefen weiter. »Aber Raph, du kannst sie nicht ewig davon abhalten, na ja, du weißt schon, sie von dir fernhalten. Es kann nach hinten losgehen.« Mittlerweile waren die beiden am Treppenende angelangt. Der ehemalige Erzengel schaute Luc fest an und flüsterte. »Ich weiß. Ich bin Freya wirklich dankbar, dass sie gestern gesungen hat. Es kam genau im richtigen Moment. Ich weiß nicht, wie ...« Der König blinzelte. »Du weißt nicht, wie ... wie du vorgehen sollst?« Raphael schwieg und legte seine Stirn in Falten. 

»Nein, das ist es nicht, aber es ist mir so fremd. Natürlich möchte ich mich mit ihr vereinigen, ich habe aber das Gefühl, dass ich Gott verlasse.« Lucian hielt eine Hand in die Luft. Er öffnete den Mund ein wenig, wollte etwas sagen. Stattdessen musterte er Raphael eine Weile. Vereinigen, sowas kann auch nur aus Raphaels Mund kommen. »Ich will es gar nicht wissen. Du warst definitiv viel zu lange ein Engel!« Luc schüttelte den Kopf und lief in Richtung des Wintergartens davon. Helle Sonnenstrahlen durchfluteten den Raum. In der Zwischenzeit hatte Lily schon den Frühstückstisch gedeckt. 

Bunte Teller standen darauf, auf ihnen lagen hellblaue Servietten mit goldenen Ornamenten. Gläser in allen Farben des Regenbogens schimmerten und warfen bunte Muster auf die reinweißen Wände, als die Sonnenstrahlen auf sie trafen. Dann holte sie Glastassen mit goldenem Rand aus der Glasvitrine, die neben den zwei elfenbeinfarbenen Sofas stand. Raphael trat ins Wohnzimmer. Das Zimmer schien noch heller zu erglühen, als der Lichtelf es betrat. »Komm, ich koche etwas Jasmintee.« Lily sah auf und lächelte ihn an. »Sehr gerne. Du weißt ja, wo alles ist. Bedien dich einfach.« Raphael verschwand in der Küche, während Lucian sich an die bodentiefen Fenster des Wintergartens stellte und hinausspähte. Seine jüngere Schwester verteilte das Besteck auf dem Tisch. Im Augenwinkel nahm er wahr, wie sie ihn neugierig musterte. »Wohin verschwindet Freya jeden Morgen?«, wollte sie wissen. Lucian drehte sich mit im Rücken verschränkten Händen um. Er musste etwas lauter sprechen, da der Wasserkocher vor sich hinblubberte. 

»Sie muss frischen Morgentau sammeln. Der kleine Brunnen für die Waldfeen und die Pixies reicht mittlerweile nicht mehr aus. Ich muss mehrere neue bauen lassen.« Lily kam auf ihn zu und zeigte auf Raphael, der weiterhin in der Küche mit dem Tee hantierte, und auf sich. »Was, wenn wir dir helfen. Gib uns was von der Arbeit ab.« Luc löste seine Hände. »Das hatte ich vor. Ich wollte euch fragen, ob ihr nicht zusätzlich den Garten neu anlegen möchtet. Einen größeren erschaffen. So, wie du ihn dir vorstellst. Vielleicht für eure Hochzeit?« Lilys Augen weiteten sich. Sie lächelte und blickte hinter sich zu Raphael. Als dieser das Wort Hochzeit vernahm, wurden seine Augen zu Schlitzen. Er starrte Luc eisig an. Der Dunkelelf zuckte mit den Schultern. »Wäre doch traumhaft.« »Darüber haben wir noch nicht gesprochen«, gab Lily von sich und lief in die Küche. 

Schau mich nicht so böse an. Ich helfe dir doch nur. Bis der Garten fertig ist, wird es dauern. Möglicherweise bis in den Herbst, sagte Lucian in Raphaels Gedanken hinein. Die beiden Elfen konnten seit kurzem gedanklich miteinander kommunizieren. Sie wussten selbst nicht, wie das überhaupt funktionierte. Luc musterte seinen zukünftigen Schwager. Raphaels Miene wurde weicher. »Meinetwegen«, sagte er nur und goss kochendes Wasser in eine silberschimmernde Kanne. »Hat jemand Schrippen geholt?«, fragte Luc. »Was für Zeug?«, wollte Raph wissen. »Brötchen«, sagte Lily und musste lachen. »So nennt man Brötchen in Berlin.« Der Lichtelf grinste. »Oh, ist mir irgendwie entgangen.« »Wir haben leider keine Schrippen. 

Es sei denn, jemand könnte sie herzaubern. Aber dieser Jemand ist noch nicht zurückgekehrt. Langsam mache ich mir Sorgen«, fügte Lily hinzu und wurde ernst. Lucian schaute auf seine Armbanduhr. »Erst acht. Warten wir noch zwei, drei Stunden. Wenn sie dann nicht kommen, gehen wir zu Raphael in die Wohnung. Rufus hat mehrere Schutzzauber über sie gelegt. Dort sind wir definitiv sicher.« Lily und Raph tauschten einen Blick und nickten synchron. Dann klatschte Luc sich in die Hände. »Wer holt jetzt die Schrippen?« »Immer der, der fragt«, entgegnete Raph und hob eine Augenbraue. »Alles muss man selber machen«, gab Luc grummelnd von sich und drehte sich um, um im Flur zu verschwinden. 

Raphael und Lily hörten, wie die Eingangstür aufging und wieder geräuschvoll ins Schloss fiel. Sofort brachen die beiden in lautes Gelächter aus. Unglaublich!, dachte Luc, als er den Hausschlüssel wieder ins Schloss steckte. Ich als König hole Schrippen. Na ja, zumindest bleibe ich so bodenständig. Er trat ins Haus. In der einen Hand eine volle Tüte mit Brötchen, in der anderen Hand einen Schlüsselbund. Schwungvoll warf er sie in eine Schüssel, welche auf der Kommode stand. Klassische Musik schallte aus den Boxen im Wohnzimmer. Mit langen Schritten durchquerte er den Flur und hielt inne. Raphael und Lily tanzten engumschlungen. Lächelnd hielt er die Tüte in die Luft. »So leid es mir tut, euch zu stören. Aber ich habe tierischen Hunger.« 

Die beiden Lichtelfen öffneten ihre Augen, die sie während des Tanzes geschlossen hatten. Lily löste sich von Raph. Mit ein paar Schritten war sie bei ihm und entriss Lucian die volle Tüte. »Hast du auch Croissants mitgebracht?« Luc rollte mit den Augen. »Es war nur von Schrippen die Rede!« Lily kicherte. »Ja, ist ja gut. Setz dich, mein König. Ich schneide dir ein Brötchen auf.« Sie zeigte mit dem Finger auf einen Stuhl, legte jedem eins auf den Teller und machte mit einem Grinsen auf ihren Lippen eine tiefe Verbeugung. Raphael verzog bei dem Anblick des Brötchens seinen Mund. »Wird Freya kommen?«, fragte er an Luc gerichtet. Der saß neben ihm und goss sich etwas von dem Tee in seine Tasse. Mit einem schiefen Lächeln beäugte er Lily. 

»Ja, sie wollte uns etwas Morgentau vorbeibringen.« »Gott sei Dank«, entwich es Raphaels Lippen. »Ich kann dieses menschliche Zeug nicht sehen.« Mit spitzen Fingern nahm er das Brötchen vom Teller und legte es auf Lilys. Die Geschwister blickten ihn verständnislos an. »Die stinken!«, sagte Raph scharf und rümpfte seine Nase. »Wie dem auch sei. Freya müsste jeden Moment eintreffen.« Kaum hatten die Worte seinen Mund verlassen, erklang ein schepperndes Geräusch aus dem Bad. Ein »Autsch!« war zu hören. Luc sprang so schnell auf, dass sein Tee überschwappte. Die Tür des Badezimmers öffnete sich und Freya kam heraus. Sie trug ein helles, enganliegendes Gewand, dass sie wie eine griechische Göttin aussehen ließ. Ihre Haare fielen ihr in gleichmäßigen Wellen über die Schultern. In den Händen hielt sie einen runden Lederbeutel. »Geht es dir gut?«, fragte Luc besorgt und eilte an ihre Seite. Freya lächelte ihn an. 

»Ja. Ich habe viel zu viel Morgentau gesammelt und bin leicht ins Taumeln geraten beim teleportieren.« Erleichtert atmete Lucian auf und nahm ihr den sichtlich schweren Beutel mit dem Blütentau ab. Die Waldfee hielt inne. »Das mit deinem Schwert macht dir größere Sorgen, stimmts?« Der Dunkelelf drehte sich seiner Liebsten zu. »Rufus und Lia sind noch nicht zurück und Raphael benimmt sich seltsam.« Freya runzelte ihre Stirn und die Efeukrone auf ihrem Kopf verrutschte. »Was meinst du mit seltsam? Nur, weil er mich gestern gebeten hat, das Feenschlaflied zu singen?« »Er hat was?«, rief Lily entsetzt. Luc und Freya wirbelten herum. Lily stand nur wenige Schritte von ihnen entfernt. Raphael mit weit aufgerissenen Augen hinter ihr. Sie drehte sich hastig zu ihm um. »Stimmt das?« Er sagte nichts und sah zu Boden. »Stimmt das?«, schrie sie in seine Richtung. 

Jetzt nickte er und schaute auf. Nervös kaute er auf seiner Unterlippe. »Nicht zu fassen!« Lilys Blick ging zu Freya und Luc. »Verräter! Allesamt!« Die Lichtelfe drehte sich wieder zu Raphael. »Du machst das doch mit Absicht!« Mit dem Zeigefinger stupste sie ihn gegen die Brust. »Was meinst du?«, flüsterte er. »Tu doch nicht so scheinheilig. Du hältst dich bewusst von mir fern!« Lilys Stimme bebte vor Wut. Ihre Wangen glühten. »Ich dachte, du liebst mich.« Sie stürmte an ihnen vorbei. »Aber das tue ich doch!«, rief er ihr hinterher. Lily hastete die Treppenstufen nach oben in ihr Zimmer. Donnernd fiel die Tür ins Schloss. Kurz spielte Raphael mit dem Gedanken, nach Hause zu gehen, um Lily etwas Zeit zum Nachdenken zu geben. 

Luc las seine Gedanken. Nein, wir sollen uns doch nicht trennen. Geh ihr nach, bevor du es endgültig vermasselst! Gerade als Raphael Lily nachlaufen wollte, erschütterte ein leichtes Beben das Untergeschoss. Lily kam wieder aus ihrem Zimmer gerannt. »O Gott! Was war das?« Sie kam die Treppenstufen runtergehechtet. Die Freunde versammelten sich um den Frühstückstisch. »Hört ihr das auch?«, fragte Freya. Raphael und Luc nickten. »Was ist das?« Lilys Augen weiteten sich, als sie näher zum Fenster ging. Wolken zogen sich wie dunkle Vorhänge vor die Sonne. Im ganzen Haus wurde es dämmrig und Lily fröstelte. Ein Dröhnen lag in der Luft, wodurch die Gläser und Tassen in der Glasvitrine klapperten. Lautes Donnergrollen schallte in Wellen über das Himmelszelt hinweg. Mit einem ohrenbetäubenden Knall zuckte ein Blitz vom schwarzgefärbten Himmel und schlug im Garten der Sterlings ein. 

Ein Schrei löste sich aus Lilys Kehle. Sie wich ein paar Schritte nach hinten. Raphael stellte sich schützend vor sie. Aus seinem Rücken ragten zwei große Flügel. Smaragdgrün schimmerten sie auf der Oberfläche und an den unteren sowohl auch an den oberen Spitzen glitzerten sie blaugrün, beinahe ins Marineblaue gehend. Wie ein Schutzschild hatte er sich vor sie gestellt. Lily wird immer an erster Stelle stehen. Egal ob sie sich streiten, dachte Luc.  Lily streckte eine Hand nach dem Lichtelf aus und versuchte, die langsam auf- und abschwingenden Flügel mit ihren Fingerspitzen zu berühren. Als es ihr gelang, stöhnte Raphael auf. »Nicht!«, flüsterte er. Ruckartig zog sie ihre Finger zurück. Ein warmer wohliger Blitz durchströmte seinen Körper bis in die letzte Zelle. 

Lucian starrte den Lichtelfen an und bemerkte, das auch ihm ein leises Stöhnen entwichen war. So als hätte er Lilys Berührung gespürt. Was war das? Sag bloß, ich spüre jetzt auch noch alles, was du spürst?Ja, antwortete Raph ihm in Gedanken und blickte ihn an. Ich spüre es auch, wenn dich Freya berührt. Lucian ließ Freyas Hand los, die er soeben noch fest umklammert hielt. Einige Sekunden verharrten die Elfen und unterhielten sich im Geiste, bis Lily die Stille unterbrach. »Was ist?«, sie sah zwischen ihrem großen Bruder und ihrem Verlobten hin und her. Luc winkte ab. »Nichts weiter.« Noch einmal erbebte der Boden unter ihnen. Dieses Mal etwas länger. Freya krallte sich an Lucians Armen fest. Raphael umarmte Lily und seine Flügel umschlossen die beiden wie ein weicher Schild. 

Eine Wolke aus Glitzer in Blau und Lila explodierte über dem langen Holztisch, Wind zog auf. Erst war es eine leichte Brise, die zu einer Böe anschwoll, bis ein kleiner Tornado auf dem Tisch tanzte. Die Servietten wirbelten von den Tellern und flogen in die Luft. Die Tassen klimperten, das Besteck wurde zu Boden geschleudert. Lily fröstelte, obwohl Raphael sie so nah an seinen Körper gepresst hielt wie nur möglich. Plötzlich fegten zwei Schatten über den Tisch und prallten stumpf zu Boden. Der Wind versiegte abrupt. Lucian hörte, wie einige Gläser auf den Fußboden fielen und zerschellten. 

Er schaute auf. Keuchend lagen die Zaubermeister in einer Ecke. Lia lag auf Rufus und er umarmte sie fest. Mit drei Schritten war der Dunkelelf bei ihnen. »Ihr seid wieder da! Geht es euch gut?« Lucian musterte die Zwei. Ihre Haare waren ein wenig zerzaust, aber sonst sahen sie aus wie immer. Erst jetzt bemerkte Luc, dass Rufus und Lia keine nachtschwarzen Kimonos mehr trugen, sondern dunkelblaue. Er wusste sogar, warum. Schwarz war die Farbe der Trauer. Sie trauerten nicht mehr, denn sie hatten sich endlich wiedergefunden. Raphael gab Lily frei, sie wich ihm jedoch nicht von der Seite. Freya eilte zu Lucian und den Zaubermeistern. Sachte schmiegte sie sich an Luc. Lia rollte sich von Rufus herunter und Lucian half ihr auf. Danach half er auch dem Rotschopf wieder auf die Beine. Die zwei Zaubermeister klopften sich die Kleidung ab, von der sich Glitzerpartikel und Staub lösten. Rufus hüstelte. Raphael wedelte mit einer Hand vor der Nase rum. »Ihr stinkt nach Rauch.« 

»Danke«, sagte Rufus und verzog einen Mundwinkel. Er klatschte in die Hände, wodurch sich noch mehr Staub löste. Lia räusperte sich. Die Wangen der Zaubermeisterin waren rußverschmiert. »Uns geht es aber gut!«, antwortete sie endlich auf Lucians Frage. »Und wo wart ihr?«, wollte Freya wissen und ihre Augen leuchteten in einem hellen Rosa auf.

*


Das Buch ist am 23. Januar 2021 als Taschenbuch und E- Book erschienen.

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